Das Märchen in Dir

„Dem Leben eine Stimme geben“

Ein Märchen im heutigen Zeitgeist

Copyright 2020 Sarah Schmidt

Für Lauscher gibt es das Märchen als mp3 zum Anhören unten am Beitragsende!


Dem Leben eine Stimme geben

Ein breiter sandiger Weg führte zu einer kleine Siedlung inmitten des Waldes. Dicht an dicht standen dort die kleinen Holzhäuschen und bildeten enge Gassen. Doch statt regem Treiben und Geschwätz unter den Bewohnern, lag alles unheimlich still, kein Laut war zu hören und keine Menschenseele war zu sehen.

In einer der kleinen Hütten jedoch lebten noch eine alte Dienstmagd, die sich um den Haushalt kümmerte und eine Frau mit ihrer kleinen Tochter. Das Mädchen trug immerzu eine rote Schürze, die ihr die Mutter einst genäht hatte. Sie saßen in der Stube am Tisch, doch sie sprachen kein Wort miteinander. Still und schweigsam ging es auch hier drinnen zu.

Derweil kam von Ferne ein schwarz gekleideter hochgewachsener Mann auf einem dunklen Pferd zügig über die Waldstraße herangeritten. Er hielt vor dem Häuschen, in dem es so schweigsam zuging, stieg vom Pferd und öffnete die Türe.

Er schaute auf die Frauen und das Mädchen und sagte: „Ich bin gekommen, um euch von hier fortzubringen. Das große Schweigen frisst euch Menschen die Seele aus dem Leib. Ihr seid die einzigen Überlebenden hier, und wenn ihr das Schweigen nicht durchbrecht, wird schon bald alles Leben aus euren Körpern weichen.“

Mit leeren Augen sahen die Frauen und das Kind den Mann an.

Er aber ging hinaus, rief nach seinem Pferd und hob das Kind darauf und setzte sich hinten dran. Dann preschten sie in sprengenden Galopp die Straße auf und davon. Lange Zeit ritten sie durch die Lande, doch es begegnete ihnen nichts und niemand.

Endlich kamen sie an eine große Kreuzung, an der viele Wege aus allen Richtungen zusammentrafen. Sie sahen von überall her Pferde mit wehenden Mähnen die Wege herauf galoppieren. Jedes von ihnen zog einen hölzernen großen Karren hinter sich her, in denen Menschen standen. Es war nichts weiter zu hören als das Donnern der Hufe auf der Erde und nichts weiter zu sehen als rasende Eile und Menschen, die ungerührt und schweigsam in den Karren standen. Wie Streitwagen kamen sie allesamt, die Landschaft durchschneidend, daher geprescht, wie um den letzten Kampf auszutragen.

Der Mann mit dem Kind vor sich zügelte sein Pferd „hoooh“. Dann sagte er zu dem Mädchen:

„Siehst du all diese unglücklichen Menschen, wie sie seelenlos und getrieben durch die Lande irren? Sie wissen nichts mehr mit sich und miteinander anzufangen. Sie haben sich verloren in der Welt. Du bist die einzige, die ihrem Leben wieder einen Sinn geben kann!“

Das Mädchen sah mit bloßen Augen auf die vielen Menschen und durchbrach endlich ihre Not:

„Wie soll das gehen?

Wie könnte ich ihnen helfen?“

Ihre Worte durchbrachen dieses atemlose Schweigen und gaben ihrem Leben wieder eine Stimme.

„Du hast sie soeben erlöst von ihrem Bann“ sprach der schwarz Gekleidete und sogleich löste sich das schwarz auf, wandelte zum lichten grau und erstrahlte zuletzt in reinem weiß.

Das Mädchen stieg vom Pferd und sah, wie die rasenden Pferde ihre Geschwindigkeit drosselten und schließlich im gemächlichen Schritt zur Ruhe kamen und stehen blieben. Die Menschen auf den Karren schauten verwirrt um sich. Es war, als ob sie von einem Traum erwachen und sie gerade zurückgekehrt sind in ihr Leben.

Andächtig sahen sie sich um, stiegen aus den Karren heraus und gingen auf das Mädchen zu, das mit dem Klang ihrer Stimme und ihren anteilnehmenden Worten den Bann des Schweigens gelöst hatte. Das Mädchen stand da, stille Tränen sammelten sich in ihren warm gewordenen Augen. Sie drehte sich um und sah den weiß gekleideten Mann an. Er lächelte und reichte ihr die Hand und hob sie hinauf vor sich auf sein Pferd.

Dann gingen Sie den weiten Weg zurück zur Waldsiedlung. All die erwachten Menschen folgten dem Mädchen mit der roten Schürze und dem weißen Mann auf dem dunklen Pferd. Hinten drein trabten gemächlich die zur Ruhe gekommenen Pferde, die leeren Karren hinter sich herziehend.

Still waren die Menschen, doch nicht mehr schweigsam. In ihre Seelen war das Leben zurückgekehrt und ihre Körper fühlten sich nicht mehr leblos und starr an, sondern lebendig und stark.

So näherten sie sich Schritt für Schritt auf sandigen Wegen der Siedlung. Die Strahlen der Sonne lichteten den Wald und umso näher sie kamen, desto kraftvoller pulsierte das Gefühl von Heimkehr und Heimat in ihnen.

Sie waren angekommen. Voll des unbeschreiblichen Glücks kehrten sie zurück in ihre Hütten. Sie entzündeten die Herdfeuer und jeder im Umkreis konnte die aufsteigenden Rauchschwaden aus den Schornsteinen der Holzhäuschen sehen. Wasser wurde in Kesseln aufgesetzt und Essen gekocht. Es wurde im Ofen gebacken und allerlei vorbereitet und ein köstlicher Duft breitete sich in der Siedlung aus.

Der Mann und das Kind waren derweil in der Hütte der Mutter des Mädchens angekommen. Doch die Mutter lag in Todesnähe auf der Pritsche, umsorgt von der alten Dienstmagd. Wie froh waren die Mutter und das Kind, sich noch einmal zu sehen und endlich brach auch die Mutter ihr Schweigen und sagte zu dem Kinde:

„Mein liebes Kind, führe du nun an meiner statt dieses Haus und bewahre und erfülle es mit neuem Leben.“

Nach diesen Worten entstieg ihr ein letzter Seufzer und sie starb. Die Mutter wurde nach drei Tagen begraben. Der weiß gekleidete Mann verließ die Siedlung und kehrte nicht zurück.

Die Menschen im Dorf aber feierten ein großes Fest mit allerlei Gebratenem und Gebackenem und ihre Freude nahm kein Ende. Das Mädchen jedoch ließ die Türe ihres Hauses immer offen, damit jeder einkehren konnte, der sich etwas von der Seele reden musste, denn eines war gewiss:

Nur wahre Anteilnahme,
gütiges Zuhören und liebevolle Worte konnten den Dämon des seelenlosen Schweigen und sinnlosen Umherirren ein Ende setzen.

So wurde die junge Frau zur Bewahrerin von Gemeinschaft und Lebenskraft.

Natürlich blieb sie nicht lange allein. Schon bald heiratete sie einen lebensfrohen jungen Burschen, mit dem sie auch alle Freuden des Lebens teilte, und der ihr ein rotes Gewand schenkte als Zeichen seiner Zuneigung und Liebe.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann hören Sie auch heute noch einander zu und erzählen den Menschen Geschichten und Märchen, um das Leben und die Wärme in den Herzen lebendig zu halten.


Das Märchen „Dem Leben eine Stimme geben“ zum Anhören:


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